Einer aus der Neckarstadt
(Frei gesprochen bei der Verlegung des Stolpersteins für Curt Sigmar GUTKIND in Mannheim-Neckarstadt, 17. September 2024)
Hier in der Max-Joseph-Str. Nr. 2 (bzw. in dem damals hier stehenden Gebäude) und auch im unzerstört gebliebenen Haus gegenüber, in der Nr. 1, hat bei seinen Eltern, dem Arzt Dr. Albert Gutkind und seiner Frau Emilie, ein junger Mann gewohnt, an den dieser Stolperstein erinnern soll: Curt Sigmar GUTKIND, geboren in der Neckarstadt am 29. September 1896.
Gutkind war ein außergewöhnlicher Mensch: sehr fleißig und hoch begabt. Durch neun Jahre war er stets der Klassenbeste am Karl-Friedrich-Gymnasium. 1914 machte er das Abitur. Doch statt an die Universität ging es bald schon an die Kriegsfront im Westen und auch im Osten. Erst 1919, mit 23 Jahren, konnte er das Studium aufnehmen. Philologe wollte er werden. Und er tat das mit so viel Energie, dass er bereits nach drei Jahren den Doktortitel erhielt für eine Arbeit über einen italienischen Renaissancedichter. Vorbereitet hatte er sich auf diese Studie auch durch ein Gastsemester an der Universität Florenz, wo er als Student bereits Kontakte zu herausragenden italienischen Gelehrten knüpfen konnte.
Das Italien der Renaissance und insbesondere die Stadt Florenz blieben das Lebensthema des Romanisten Gutkind. Von 1924 bis 1927 unterrichtete er als Deutsch-Lektor an der Universität Florenz. Dort heiratete er 1926 Laura Maria Kutzer, die ebenfalls 1896 geborene Tochter des Mannheimer Oberbürgermeisters. Mit ihr gemeinsam machte er sich ans Übersetzen italienischer, französischer und lateinischer Literatur. In kürzester Zeit hat er 14 Bücher veröffentlicht, darunter zwei große Bände über die Kulturgeschichte des Weintrinkens und der Tafelfreuden – beide mit Texten aus allen Zeiten und vielen Sprachen, beide mit wunderbaren Illustrationen, die der in Mannheim lebende Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger ausgewählt hatte.
1928 kam Gutkind aus Italien zurück nach Mannheim, als Dozent an die Handelshochschule, die heutige Universität. Hier hat er etwas damals gänzlich Neues entwickelt: den europa-, wenn nicht sogar weltweit ersten Studiengang zur wissenschaftlich fundierten Ausbildung von Konferenzdolmetschern (u.a. für den Völkerbund im Genf) und Fachübersetzern für die Sprachen Englisch und Französisch. Das Mannheimer Dolmetscher-Institut war eine große, sogar international beachtete Erfolgsgeschichte – bis zum Frühjahr 1933. Da wurde Gutkind durch nationalsozialistische Studenten und Kollegen als – auch mit Sozialdemokraten wie dem Oberbürgermeister Heimerich verbandelter – Jude aus der Hochschule verjagt, sein Dolmetscher-Institut an die Universität Heidelberg verschoben.
Gutkind wollte weiter als Wissenschaftler arbeiten. Er flüchtete nach Paris, seine Frau folgte ihm. An der Sorbonne gab es für ihn nur unbezahlte Lehraufträge. Sogar nach Südafrika oder Australien oder sogar in die Sowjetunion wäre er gegangen, wenn es für ihn nur an einer Universität eine Stelle als Forscher gegeben hätte. Die fand sich schließlich in England, in Oxford. Er unterrichtete Italienisch, schrieb auf Englisch ein stockgelehrtes, seinem Schwiegervater Theodor Kutzer gewidmetes Buch über Cosimo de Medici, dem Florenz seine Blüte verdankte. Das Werk trug Gutkind u. a. den Ruf auf eine Lebenszeitstelle an der Universität London ein. Nach fünf Jahren Exil hatte er erneut eine feste Position im akademischen Bereich errungen. Er wohnte jetzt mit seiner Frau im feinen Londoner Stadtteil Highgate.
Die Semesterferien verbrachten die beiden meist in Italien. 1936 bekam er einen italienischen Pass. Der ihm aber nach zwei Jahren schon wieder entzogen wurde, nachdem Hitler Mussolini dazu gebracht hatte, auch in Italien eine antisemitische Politik einzuleiten.
Gutkind bewarb sich als staatenloser Emigrant im Januar 1940 um die britische Staatsangehörigkeit, da er schon fünf Jahre an englischen Universitäten gelehrt hatte. Doch am 10. Juni 1940 erklärte Mussolini Großbritannien den Krieg, wovor ihn Churchill – der lange Jahre ein großer Bewunderer des Antikommunisten Mussolini gewesen war – eindringlich gewarnt hatte. Churchill reagierte wutentbrannt. Er befahl, alle in England lebenden italienischen und deutschen Männer zu verhaften und zu internieren. Das betraf auch Gutkind und viele andere aus Deutschland und Österreich geflüchtete Juden und Hitlergegner. Weil Churchill angesichts der drohenden Invasion der Hitler-Armeen das nötige Wachpersonal für die Lager fehlte, bat er Australien und Kanada, die Internierten für die Dauer des Krieges zu übernehmen.
Gutkind wurde Ende Juni 1940 mit Hunderten Internierten nach Liverpool gebracht. Mit dem Ozeandampfer Arandora-Star sollten die Internierten nach Neufundland verfrachtet werden. Am 2. Juli wurde das Schiff im Nordatlantik von einem deutschen U-Boot versenkt. 700 Menschen wurden gerettet, 864 kamen ums Leben, unter ihnen der aus Mannheims Neckarstadt stammende Curt Sigmar Gutkind.
Seine Frau Laura Maria Gutkind-Kutzer hat die Nazizeit und den Krieg unter sehr schweren Bedingungen in England überlebt. Den wissenschaftlichen Nachlass ihres Mannes übergab sie in den 1960er Jahren dem Mannheimer Stadtarchiv. Sie selbst lebte ab den 1950er Jahren bis zu ihrem Tod 1997 in Bayern, wo sie sich als freiberufliche Literaturübersetzerin zu etablieren versuchte und an der Volkshochschule Italienisch-Kurse gab, auch für ihre Schüler regelmäßig Exkursionen nach Florenz organisierte. Kinder hatten die Gutkinds nicht, von Verwandten gibt es so gut wie keine Spur.
(Andreas F. Kelletat)