Die UeLIT-Mitglieder Heidi R. Rotroff und Xiao Liu berichten über eine Veranstaltung am Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft der Universität Graz, 29. und 30. November 2024:
Bericht über die Tagung „Translationskultur der DDR“
Die Tagung „Translationskultur der DDR“ ist die dritte Veranstaltung in einer Reihe von Tagungen, die sich mit dem Thema Translation in der DDR auseinandersetzen. Das 6. Germersheimer Symposium „Grenzüberschreibungen – Übersetzer und Übersetzen in der SBZ und der DDR (1945–1990)“ des Arbeitsbereichs Interkulturelle Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz fand im Juni 2018 statt; darauf folgte im November 2022 die „Denkwerkstatt“ der Leibniz-Sozietät in Berlin mit dem Titel „Übersetzen in der DDR: Eine verflochtene Geschichte“ mit einem etwas kleineren Teilnehmerkreis. Nun veranstaltete das Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft der Universität Graz im November 2024 die Tagung „Translationskultur der DDR“.
Der Begriff der Translationskultur, der für die Tagung ein Leitbegriff war,wurde ursprünglich vom Grazer Professor Erich Prunč geprägt. Er definierte das Konzept folgendermaßen:
Unter Translationskultur ist […] das historisch gewachsene, sich aus der dialektischen Beziehung zur Translationspraxis entwickelnde, selbstreferentielle und selbstregulierende Subsystem einer Kultur zu verstehen, das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht, und das aus einem Set von gesellschaftlich etablierten, gesteuerten und steuerbaren Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen sowie den habitualisierten Verhaltensmustern aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartnern besteht.[1]
Im Rahmen der Tagung sollten Erkenntnisse zusammengetragen werden, um eine oder mehrere Translationskulturen der DDR zu skizzieren. Ein weiteres Anliegen war, dass dem Fachübersetzen vermehrte Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Dies scheint erfolgt zu sein: Nach der Eröffnung der Tagung durch Hanna Blum, Larisa Schippel und Pekka Kujamäkki, der persönliche Erinnerungen – unter anderem eine Diskussion mit Christoph Hein über seinen Roman Der fremde Freund – an die DDR teilte, waren die Beiträge des ersten Tages hauptsächlich dem Fachübersetzen gewidmet, während der zweite Tag unter dem Stern des Literaturübersetzens stand. Da die Vorträge bereits von der Tagungsleiterin Hanna Blum thematisch gruppiert worden waren, werden sie hier in chronologischer Reihenfolge vorgestellt.
Den Anfang machten Anna Förster und Lydia Schmuck, die sich auf die Übersetzung französischer Theorie in der DDR konzentrierten. Anna Förster (Universität Erfurt) untersuchte die (Nicht-)Übersetzung französischer Strukturalisten und Poststrukturalisten in der DDR. Ihr besonderer Fokus lag auf den Hintergründen des Ausbleibens solcher Übersetzungen in der DDR, obwohl beispielsweise in Polen und der Tschechoslowakei Übersetzungen erschienen. Förster identifizierte nicht nur ideologische Einflüsse, sondern unter anderem auch schlechte ökonomische Aussichten als Ursache. Lydia Schmuck (Technische Universität Dortmund) präsentierte die von Karlheinz Barck herausgegebene Anthologie Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, welche im Jahr 1990 im Reclam Verlag Leipzig erschien und unter anderem Essays von Roland Barthes und Michel Foucault enthält. Anhand der archivierten Korrespondenz von Barck stellte Schmuck die Hintergründe und die Entwicklung der Zusammenstellung der Anthologie vor und konnte nachweisen, dass sich der Herausgeber der Anthologie mit den Ideen Foucaults und deren Präsentation im Text auseinandersetzte.
Julia Richter (Universität Graz) nutzte Archivmaterial aus dem Universitätsarchiv Leipzig und dem Stasi-Unterlagen-Archiv, um die Leipziger Schule zu untersuchen und Einblicke in ihre zahlreichen internationalen Vernetzungen zu gewähren. Sie wies unter anderem intensive Beziehungen mit Universitäten in Ägypten, Großbritannien und in die Tschechoslowakei nach. Zudem wurden auch deutsch-deutsche wissenschaftliche Beziehungen betrachtet. Als nächstes präsentierte Anne-Kathrin Ende stellvertretend für Carsten Sinner (Universität Leipzig) das Oral History Projekt am Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie der Universität Leipzig. Hierbei handelt es sich um eine Langzeitstudie, die anhand von Zeitzeugeninterviews die Geschichte der Sprachmittlung in Leipzig zu rekonstruieren sucht. Im Vortrag für diese Tagung wurden insbesondere die Themen der Studienplatzvergabe, des Sprachenprofils und des Auslandsteilstudiums thematisiert.
Hanna Blum (Universität Graz) nutzte Prunčs Definition von Translationskultur als ihren Ausgangspunkt und plädierte in ihrem Vortrag für die Nutzung von sowohl mündlichen als auch schriftlichen Quellen, um eine Alltagsgeschichte der Translation in der DDR zu schreiben. Diese würde sich weniger auf bereits ausführlich diskutierte Aspekte wie Zensur konzentrieren, sondern auf die individuelle Perspektive und Handlungsmacht und damit eine demokratischere Art der Geschichtsschreibung fördern. Larisa Schippel (Universität Graz) präsentierte ihre Untersuchung der Akademie der Wissenschaften der DDR als übersetzende Einrichtung und ihre Skizze eines Modells für die Identifizierung eines translatorischen Verlagsprofils. Dieses würde unter anderem die Motive für Übersetzungen, die Lebensläufe der Übersetzungen, den Status der Übersetzer und Übersetzerinnen sowie die Rezeptionsorientierung thematisieren. Schippel erprobte ihr Modell am Beispiel des Akademie-Verlags. Den letzten Beitrag lieferte am Ende des Tages Manfred Schmitz (Intertext) mit einem Überblick über das Dolmetschwesen in der DDR. Dabei ließ er auch seine eigene Arbeitserfahrung beim Fremdsprachendienst Intertext einfließen und sprach unter anderem über die Dolmetscherausbildung, die Studienpläne sowie die Honorarstruktur.
Der zweite Teil der Tagung, der sich hauptsächlich auf das Literaturübersetzen und die damit verbundenen Akteure konzentrierte, begann am nächsten Tag mit Lukas Joura (Humboldt-Universität zu Berlin/Universität Potsdam), der über die Rezeption der Werke des ukrainischen Autoren Oles Hončar in der BRD und der DDR referierte. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Roman Sobor, der nie in der DDR veröffentlicht wurde. Joura demonstrierte, dass die Drucklegung bzw. das Verwehren der Drucklegung politisch motiviert war und die Rezeption der ukrainischen Literatur in BRD und DDR maßgeblich durch sowjetische Institutionen gesteuert wurde.
Es folgten zwei Beiträge über den Schriftstellerverband der DDR. Als erstes sprach die Übersetzerin und Dolmetscherin Viktoriya Stukalenko über die Beziehung zwischen Autor und Übersetzer in der DDR. Sie hob hervor, dass Übersetzer und Schriftsteller im Schriftstellerverband gleichrangig waren und Übersetzer unter dem geltenden Urheberrecht als Urheber ihrer Übersetzungen galten. Anhand von Dokumenten des Schriftstellerverbands, welche im Archiv der Akademie der Künste verwahrt werden, zeigte Stukalenko außerdem, dass Übersetzer und Übersetzerinnen im Schriftstellerverband – etwa Günter Stein, Liselotte Remané und Werner Creutziger – rege übersetzungstheoretische Diskussionen führten. Heidi R. Rotroff (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) führte das Thema fort, indem sie zuerst über die Bio- und Bibliografie des Übersetzers Werner Creutziger, der im Schriftstellerverband sehr aktiv war, sprach. Daraufhin stellte sie die Vorteile vor, welche für Übersetzer mit einer Mitgliedschaft im Schriftstellerverband verbunden waren, sowie das Aktiv der literarischen Übersetzer im Schriftstellerverband, dessen Organisation und die ideologischen Einflüsse auf seine Aktivitäten. Abschließend präsentierte Rotroff aus dem Nachlass von Elga Abramowitz den Inhalt der Akte des Schriftstellerverbands zu Abramowitz, die eine Übersetzerin und ein Gastmitglied im Verband war.
Die nächsten drei Vorträge befassten sich mit der Übersetzung chinesischer Werke in der DDR sowie den dahinterliegenden kulturpolitischen Hintergründen. Jie Li (Northwestern Polytechnical University) untersuchte die zwei zeitnah angefertigten Übersetzungen des Werks北京人, das 1986 in Westdeutschland als Pekingmenschen und 1987 in der DDR unter dem Titel Eine Welt voller Farben: 22 chinesische Porträts veröffentlicht wurde.[2] Li verglich die Paratexte, die Übersetzungsstrategien und die sprachlichen Entscheidungen, um die Intentionen und subjektiven Eingriffe der Übersetzerinnen und Übersetzer sichtbar zu machen. Babette Bernhard (Universität Hamburg) stellte die Übersetzungsgeschichte der Werke von Sun Zhongshan in der DDR vor. Die Übersetzerin Helga Scherner hatte sich dem Autor bereits in ihrer Dissertation gewidmet und schlug 1965 eine Übersetzung seiner Schriften vor, die der Reclam-Verlag zunächst ablehnte. Erst Jahre später wurde das Projekt realisiert – zum Teil auch als kulturpolitisches Instrument, um eine Alternative zur maoistischen Strömung in China zu bieten. Xiao Liu (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) präsentierte in ihrem Vortrag ihre Untersuchung der Rolle des Greifenverlags, der in den 1950er-Jahren eine Pionierfunktion in der Übersetzung chinesischer Literatur in der DDR übernahm. Mit der Unterstützung eines Netzwerks aus Chinakennerinnen und -kennern wie Klara Blum, Johanna Herzfeldt und Peter Hüngsberg konnte sich der Verlag einen Vorteil im Wettbewerb um chinesische Werke sichern.
Den Abschluss machten drei sehr unterschiedliche Beiträge. Andreas F. Kelletat (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) sprach über die Theorie und Praxis des Nachdichtens in der DDR. Er zeigte, dass der Nachdichtung in der DDR ein hoher Stellenwert zukam: Nachdichtungen wurden gut entlohnt und öffentlich diskutiert; viele DDR-Autoren dichteten nach und bezogen diese Nachdichtungen in ihre gesammelten Werke mit ein. Die Orientierung am sowjetischen Vorbild beeinflusste dabei den Umgang mit Nachdichtungen maßgeblich. Przemysław Chojnowski (Universität Wien) stellte Karl Dedecius und Kurt Harrer vor, die beide aus dem Polnischen übersetzten. Anhand von einer Fülle an Material aus dem Karl Dedecius Archiv, welches sich am Collegium Polonicum in Słubice, Polen, befindet, stellte Chojnowksi insbesondere die Biografie und die übersetzerische Tätigkeit von Dedecius vor. Schließlich referierte Holly Bushman (Princeton University School of Architecture) über die Übersetzung von Ideen aus der Architektur. Dabei nutzte sie den Band Umweltbürger und Umweltmacher, der von Lore Judt übersetzt und 1982 vom Verlag der Kunst Dresden herausgegeben wurde, als Beispiel. Er enthält Essays von Claude Schnaidt, der ein Befürworter des architektonischen Funktionalismus war. Außerdem war er ein überzeugter Marxist, der durch Kuba Kontakte in die DDR hatte. Bushman stellte die These auf, dass Schnaidt den einst als kapitalistisches Konzept verschrienen Funktionalismus so auslegte und übersetzte, dass er in die sozialistische Ideologie passte.
Die Vorträge dieser Tagung deckten ein breites Spektrum an Themen ab – von Fach- und Literaturübersetzungen über Institutionen und Verlage bis hin zur Rolle und Ausbildung von Dolmetschern und Dolmetscherinnen, Übersetzern und Übersetzerinnen. Ein zentraler methodischer Trend war dabei die Nutzung von Archivmaterialien, die sich mittlerweile als unverzichtbare Primärquellen für die historische Translationsforschung etabliert haben. Dabei wurden nicht nur offizielle Dokumente aus staatlichen bzw. behördlichen Archiven herangezogen, sondern auch Papiere aus Verlags-, Universitäts- und Privatarchiven konsultiert. Auch Zeitzeugenberichte in der Form von Interviews und oral history spielten eine wichtige Rolle. Diese methodischen Zugänge ermöglichen eine breitere Kontextualisierung von Themen in der historischen Translationsforschung und helfen dabei, eine lebendigere und vielfältigere Geschichte der Translation in der DDR zu schreiben. In den Vorträgen dieser Tagung wurde zudem ein erweiterter Blick auf die Akteure der Translation erkennbar: neben einem Fokus auf literarische Übersetzer und Übersetzerinnen in Übereinstimmung mit der translator studies Strömung wurden auch Dolmetscher und Dolmetscherinnen sowie die translationsbezogenen Handlungen von Institutionen wie Verlagen, Behörden oder Universitäten thematisiert. Besonders markant war der Fokus auf den Übersetzer- und Dolmetscherberuf, der aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wurde: von der Ausbildung über den Berufseinstieg bis hin zur wichtigen Institution des Schriftstellerverbands und Fremdsprachendiensten wie Intertext. Diese multiperspektivischen Ansätze tragen dazu bei, die Translationskultur(en) der DDR differenzierter zu erfassen und Licht auf bisher weniger beachtete Verflechtungen zu werfen. Insgesamt gab die Tagung wertvolle Impulse für die Erforschung der DDR-Translationsgeschichte; die vielfältigen Vortragsthemen ermöglichten zudem eine mosaikhafte Annäherung an eine Rekonstruktion der Translationskultur(en) der DDR.
Heidi R. Rotroff, Doktorandin am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Xiao Liu, Doktorandin am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
[1] Prunč, Erich (2008): „Zur Konstruktion von Translationskulturen.“ In: TRANSLATIONSKULTUR – ein innovatives und produktives Konzept. Hrsg. Schippel, L. Berlin: Frank & Timme, 19–41.
[2] Pekingmenschen wurde in der BRD vom Diederichs Verlag veröffentlicht; der Herausgeber war Helmut Martin. Die Übersetzer bzw. Übersetzerinnen konnten hier nicht identifiziert werden, da eine händische Untersuchung der Ausgabe nicht möglich war. Eine Welt voller Farben: 22 chinesische Porträts erschien in der DDR im Aufbau-Verlag; die Herausgeberin war Eva Müller. Übersetzt wurden die Porträts laut Inhaltsverzeichnis von Ines Gründel, Reiner Müller, Marianne Liebermann, Eva Müller und Petra John.